"Ich habe die Nazis überlebt", sagt Rahel Mann gelassen.

Christa Spannbauer & Rahel Mann
Christa Spannbauer & Rahel Mann

„Wir sollten nicht nur schauen, wo uns Wunden geschlagen wurden, sondern auch, wo uns geholfen wurde“, sagte sie. Gemeinsam saßen wir in ihrer kleinen und gemütlichen Wohnung in Berlin, die bis zur Zimmerdecke angefüllt ist mit Büchern und Erinnerungsstücken eines bewegten Lebens. Nachdenklich schweift ihr Blick beim Gespräch immer wieder aus dem großen Fenster. Vor allem des Ausblicks wegen habe sie diese Wohnung nach ihrer Rückkehr aus Israel gewählt. Wenn sie Zeit habe, so erzählt sie, sitze sie einfach nur auf dem Sofa und schaue in den weiten Himmel. Blicke den Vögeln nach. Den Wolken, die vorüberziehen.

Der Himmel über Berlin

Viel Zeit bleibt ihr dafür jedoch nicht. Denn so etwas wie Ruhestand kennt die tatkräftige 82-Jährige nicht. Als gefragte Zeitzeugin wird sie häufig von Schulen eingeladen und ist zu Lesungen aus dem Buch „Uns kriegt ihr nicht“ unterwegs. Daneben ist sie als Hospizhelferin tätig und begleitet Sterbende auf ihrem letzten Weg. Der Tod schrecke sie nicht, sagt sie, den habe sie schon als Kind als etwas Schönes empfunden. 

Nur wenige hundert Meter Luftlinie trennen sie heute von dem Haus, in dem sie ihre ersten Lebensjahre verbrachte. Von der Wohnungstür, an der einst ein gelber Davidstern geklebt war. Von dem dunklen Keller, in dem sie monatelang ausharren musste. Ich habe die Nazis überlebt. Das ist das größte Geschenk überhaupt“, sagt sie gelassen.

Das Kind im Keller

1937 wurde Rahel im nationalsozialistischen Berlin geboren, unehelich gezeugt in einer einzigen Nacht der Mutter mit einem polnischen Juden, der auf der Flucht vor den Nationalsozialisten war und schon bald darauf in Südfrankreich erschossen wurde. Sie kam zu früh zur Welt und lag die ersten Monate in einem jüdischen Krankenhaus, bevor Pflegeeltern sie zu sich nahmen. 1941, kurz vor ihrer Deportation, brachten diese das Kind zu ihrer leiblichen Mutter zurück. Doch Rahel spürt sehr schnell, dass sie nicht in das Leben der Mutter passt. Sie verbringt viel Zeit mit Frau Vater, der Hauswartsfrau, die im Parterre wohnt. "Ich mochte ihren dicken Busen und Bauch. Bei ihr fühlte ich mich wohl." Deren Mann ist jedoch nicht nur Parteimitglied, sondern auch Blockwart. Seine Aufgabe ist es unter anderen darauf zu achten, dass die schikanösen Vorschriften gegen Juden eingehalten werden. Als 1942 die Gestapo das Haus stürmt, um die jüdischen Bewohner zu deportieren und einer der Männer nach dem Kind greift, tritt Frau Vater energisch hinzu und zieht das Kind an sich: 'Dat is meine Nichte. Die jehört zu mir'. Ein Moment, der über Leben und Tod entscheidet. Eine spontane Rettungsaktion, mit der sich die Arbeiterfrau in große Gefahr begibt. Beherzt nimmt sie sich des jüdischen Kindes an. Mit der stillschweigenden Duldung ihres Mannes. „Der hat mich nicht verraten, hat aber auch nie mit mir gesprochen“, erinnert sich Rahel Mann. Nach dieser Rettung in letzter Sekunde wird sie die nächsten Jahre in wechselnden Verstecken verbringen und durch ein Netzwerk von Helfern geschleust. Die Namen ihrer Lebensretter erfährt sie nicht. Erinnern kann sie sich Gesichter und eindrückliche Erlebnisse, an freundliche Worte, den Geschmack von Holundersuppe mit Grießklöschen, an warme Sommertage im Schrebergarten. Schließlich nimmt die Familie des Pfarrers von Berlin-Schöneberg, Eitel-Friedrich von Rabenau, das Kind bei sich auf. Hier erfährt Rahel zum ersten Mal familiäre Geborgenheit. Pfarrer Rabenau erzählt ihr am Abend Geschichten von Jesus und singt ihr hebräische Lieder vor, damit sie ihre Wurzeln nicht vergisst. „Erstmals in meinem Leben fühlte ich mich geliebt“, sagt sie. Sie fasst Vertrauen zur engagierten Diakonissin der Gemeinde, Schwester Frieda, die sich des Kindes schützend annimmt und es bei Gefahr versteckt. Nach einem halben Jahr der Geborgenheit muss Rahel die liebgewonnene Familie jedoch verlassen. Pfarrer Rabenau, führendes Mitglied der Bekennenden Kirche und aktiv im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, wird verhaftet. Nun ist das Versteck nicht mehr sicher. Wieder nimmt sich Frau Vater der mittlerweile sieben Jahre alten Rahel an. Und versteckt das Mädchen im November 1944 im Keller des eigenen Hauses.


Das Kind im Keller

Versteckt hinter einem großen Wandschrank verbringt Rahel die letzten Kriegsmonate in einem dunklen Kellerverschlag, dessen Fenster mit Brettern vernagelt sind. Nur wenn die Sonne scheint, dringt etwas Licht durch die Ritzen. Den Jasminstrauch, der im April 1945 vor dem Kellerfenster zu blühen begann, kann sie heute noch riechen. Ebenso den Geruch der Brandbomben, welche die Häuser um sie herum in Schutt und Asche legten. Sie verbringt die Tage und Nächte auf einer Matratze, die auf dem nackten Steinboden liegt. Ein Bilderbuch hat sie bei sich, das sie Immer wieder anschaut. Der Förster im Buch wird zu ihrem steten Begleiter durch die Einsamkeit. Kurz nur und heimlich kann Frau Vater zu ihr kommen und sie mit dem Lebensnotwendigen versorgen. Mitunter schleicht sich ein eingeweihter Hausbewohner, der junge Wolfgang Schlüter, in den Keller. Er hat ein Schulheft bei sich und lehrt das versteckte Kind Lesen. So vergehen die Monate. „Ich habe als kleines Kind keine heile Familie, keine zärtliche Mutter, kein geborgenes Zuhause gekannt. Deswegen haben mir diese Dinge im Versteck auch nicht gefehlt“, sagt Rahel Mann heute. Oft werde sie aufgrund ihrer Kindheitserlebnisse bedauert. Sie müsse doch schrecklich traumatisiert sein, mutmaßen viele Menschen, die ihre Geschichte hören. Doch nichts liegt Rahel Mann ferner als bemitleidet zu werden oder gar Selbstmitleid zu empfinden. „Freiheit“, so reflektiert sie, „kann man auch im Keller haben. Rosa Luxemburg hat die Freiheit im Gefängnis gefunden. Es kommt immer auf die innere Haltung an und nicht auf die äußeren Umstände.“

 

In den letzten Kriegstagen befreien russische Soldaten das Kind aus dem Keller, trösten es in einer fremden Sprache, zeigen ihm Bilder von ihren Familien, um ihm die Angst zu nehmen. Sie kümmern sich um das Kind, baden es, geben ihm zu essen. Bald darauf kehrt die Mutter schwerkrank aus dem Arbeitslager zurück. Mutter und Tochter ziehen gemeinsam in ihre frühere Wohnung, doch sie bleiben sich fremd. „Ich konnte sie einfach nicht lieben“, sagt Rahel Mann. „Innerlich saß ich noch lange im Keller, auch nach meiner Befreiung.“ Als sie von den vielen Toten des Holocaust erfährt, fragt sie sich unablässig: „Warum bin ich davon gekommen und so viele andere nicht?“ Sie beginnt exzessiv zu schreiben, füllt 24 Tagebücher, schreibt sich alles von der Seele. „Das war meine eigentliche Therapie“, sagt sie heute. Sie heiratet, bekommt zwei Kinder und wird Lehrerin. Nach dem Scheitern ihrer ersten Ehe studiert sie Medizin und Philosophie und arbeitet viele Jahrzehnte als Psychotherapeutin und Heilpraktikerin. Den Menschen zu helfen wird ihr zum Auftrag. Dem Leben zurückzugeben, was ihr geschenkt wurde.

Gerechte unter den Völkern

Rahel Mann wurde gerettet, weil andere Menschen mutig ihr Leben für sie riskierten. „Wer auch nur ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt“. So steht es im Talmud, dem heiligen Buch der Juden. Und doch waren sie viele Jahrzehnte nahezu vergessen, die Stillen Helden des Nationalsozialismus, die ihren jüdischen Mitbürgern das Leben retteten. Die Handlungsspielräume nutzten, wo andere keine sahen. Die das himmelschreiende Unrecht nicht hinnahmen, sondern ihren Mitmenschen in Not beistanden. Für den Auschwitz-Überlebenden Arno Lustiger, der viele von ihnen mit seinem Buch Rettungswiderstand dem Vergessen entriss, sind sie das „kostbarste moralische Kapital ihrer Gesellschaft weil sie die Ehre ihrer Mitbürger und der Menschheit während der barbarischsten Zeit bewahrt haben.“

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